Der Ukrainekrieg und Zukunft der internationalen Rechtsordnung

Der Ukrainekrieg und Zukunft der internationalen Rechtsordnung

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In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, sagte Olaf Scholz im Deutschen Bundestag: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ Diese Beschreibung bringt das Problem auf den Punkt. Was aber in dieser Erklärung und auch in den sich in den folgenden Monaten anschließenden Diskussionen frappierte, war das Fehlen eines Themas, das es eigentlich verdiente, mit im Zentrum der Debatte zu stehen Obwohl sich in der Gegenwart Krisen häufen und die Gefahr eines Krieges zwischen nuklear bewaffneten Großmächten so hoch ist, wie sie es seit den Höhepunkten des Kalten Krieges nicht mehr war, fehlt in der aktuellen Diskussion um den Ukrainekrieg eine auf Reform der bestehenden internationalen Ordnung ausgerichteten Perspektive. Die gesamte Diskussion im Westen erschöpft sich in Fragen, welche Waffen an die Ukra- ine geliefert werden sollen und wie scharf die Sanktionen gegen Russland sein sollten, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, sich effektiver gegen den rechtswidrigen Angriff Russlands zu wehren, ohne dass der Krieg über die Ukraine hinaus eskaliert, wie viel Aufrüstung jetzt erforderlich sei und allenfalls noch wie viel Leiden den deutschen Bürgern zugemutet werden kann. Das sind wichtige und notwendige, aber letztlich nicht hinreichend tiefgreifende Fragen. Die in der Gegenwart immer deutlicher hervortretenden Mus- ter von erneutem Großmachtwettbewerb, Wettrüsten, Kriegen und Kriegsdrohungen sind nicht einfachtatsächliche Machtphänomene, die naturgemäß zu stark sind, um vom Internationalen Recht effektiv eingehegt zu werden. Die Struktur der bestehenden internationalen Rechtsordnung selbst spielt in der gegenwärtigen Konstellation eine ermöglichende, den neuen Großmachtwettbewerb nicht zähmende, sondern letztlich sogar provozierende Rolle. Die Struktur dieser Ordnung ermöglicht und unterstützt eine politische Dynamik, die diese Ordnung im Kern immer weiter aushöhlt und letztlich zerstört. Die Frage ist, welche Strukturmerkmale der bestehenden Ordnung es sind, die eine solche destruktive Dynamik des Großmachtwettbewerbs ermöglichen, und wie die internationale Rechtsordnung reformiert werden müsste, um diese Dynamik zu unterbinden. Die in den letzten Jahren immer wieder von westlichen Staaten beschworene „regelbasierte internationale Ordnung“ ist die Ruine eines unvollendeten Projektes der Konstitutionalisierung der internationalen Rechtsordnung. Dieses Projekt hatte in Wilsons 14 Punkten 1918 seinen politischen Ausgangspunkt und fand in den Ideen und konkreten institutionellen Projekten der Roosevelt-Administration 1941–1945 einen vorläufigen politischen Höhepunkt, dessen ambitionierte Konturen im Laufe des Kalten Krieges in Vergessenheit gerieten und nach dem Kalten Krieg im Zuge der Globalisierung nur selektiv wiederbelebt wurden. Im Folgenden soll dieser historische Hintergrund kurz nachgezeichnet werden. Zum einen soll es darum gehen, in diesem Rahmen eine Standortbestimmung vorzunehmen, bei der analytisch zentrale Begriffe und Kategorien gegenwärtiger Diskurse aufgegriffen und reflektiert werden. Wie wurde der Kampf zwischen Autokratie und Demokratie, so wie es die Biden-Administration auch infolge des Ukrainekrieges formuliert, bei der Entstehung der völkerrechtlichen Nachkriegsordnung gedacht? Was für eine Rolle spielt diese Unterscheidung bei der Rechtfertigung von Gewaltanwendung? Welche Rolle sollte sie hinsichtlich der Gestaltung von Handelsbeziehungen spielen? Welche Rolle spielt sie bei der tatsächlichen Ausübung von Gewalt und der Bereitschaft, sich für Gewaltanwendung vor internationalen Institutionen zu verantworten? Und was ist von anderen Stimmen der Gegenwart—zu denen auch, aber nicht nur Russland und China gehören—zu halten, die statt von einem Gegensatz zwischen Demokratie und Autokratie den Gegensatz von einer unipolaren und einer multipolaren Ordnung in den Vordergrund stellen und Hypokrisie und Doppelstandards des Westens beklagen? Aus diesen historisch-systematischen Reflexionen ergibt sich dann einerseits eine klarere Perspektive auf den gegenwärtigen Zustand der internationalen Rechtsordnung. Andererseits werden einige Eckpunkte für die Richtung und Struktur notwendiger Reformen der internationalen Rechtsordnung deutlich. Ziel ist es die Voraussetzung dafür zu schaffen, die Macht tatsächlich dem Recht unterzuordnen und dem Wettbewerb der Großmächte eine konstruktive Richtung zu geben.

Source Publication

Perspektiven nach dem Ukrainekrieg : Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung?

Source Editors/Authors

Julian Nida-Rümelin, Mattias Kumm, Erich Vad, Albrecht von Müller, Werner Weidenfeld, Antje Vollmer

Publication Date

2022

Der Ukrainekrieg und Zukunft der internationalen Rechtsordnung

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